Je mehr Unternehmen ich in ihrem ungeschminkten Inneren erlebe, desto mehr sehe ich die Parallelen zwischen Wirtschaft und unserem Miteinander. Und das ist nur logisch, denn Unternehmen sind, ebenso wie zwischenmenschliche Verbindungen, Sozialsysteme.
Was sie gemeinsam haben ist der selbst auferlegte Zwang nach „outer beauty“, dem schönen Schein, der Botschaft, dass alles in bester Ordnung sei. Obwohl – und gerade weil – das so förderlich anmutet, ist es in hohem Maße dysfunktional und zerstörerisch.
Nicht nur für Singles auf der Pirsch ist es relevant, einen optimalen Eindruck bei möglichen neuen Partnern zu hinterlassen, sondern selbst für Ehepaare, ihre aktuell angespannte Lage nicht in der Familie sichtbar zu machen. Sogar im inner circle, im behüteten Kreis, gilt es, ein Gefühl von „alles paletti“ zu vermitteln.
Analog gilt auch für Unternehmen, dass sich nicht nur neue Kunden und Mitarbeiter von dessen attraktiver Erscheinung angezogen fühlen sollen, sondern auch die eigenen Mitarbeiter. Sie sollen nur das sehen, was sie vermeintlich verarbeiten und ertragen können.
Woher kommt dieser selbst auferlegte Zwang nach „outer beauty“? Und wozu taugt er?
Je nachdem, welche Theorie man zu Rate zieht, ergeben sich daraus verschiedene Erklärungen.
Die Psychologie könnte behaupten: Je höher die innere Unordnung eines Menschen, desto ausgeprägter das Bedürfnis, nach außen Ordnung zu demonstrieren. Ursächlich für diese Unordnung sind oft mangelndes Vertrauen (in sich selbst und andere), fehlende Ideen, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit.
Die Soziologie, im Speziellen die Systemtheorie, würde vermutlich proklamieren: Systeme reproduzieren sich um des Selbsterhalts willen. Hat ein Unternehmen als operativ geschlossenes Sozialsystem „gelernt“, dass das gelebte Kommunikationsmuster „outer beauty“ zum Erfolg führt, so wird es dieses folgerichtig fortführen.
Wieso diese Betrachtung zu kurz greift – typische Irrtümer und Denkfallen
Erstens: Die vermutete Kausalität ist häufig keine.
Die Annahme, dass „outer beauty“ ein Teil des Erfolgs ist, basiert auf getätigten Beobachtungen, die automatisch mit dem Ergebnis verknüpft wurden. „Wir haben immer ein gutes Image gehabt, das hat uns erfolgreich gemacht.“ Häufig ist dies eine Fehlannahme. Denn der wahre Grund für Erfolg liegt in der Regel eher in einem gemeinsamen WHY („Wozu machen wir das hier überhaupt?“), einem gemeinsamen Ziel („Wo soll unsere Reise hingehen?“) und einem geteilten Verständnis, wie das gehen kann – der DNA eines Unternehmens.
Vielmehr ist es also wahrscheinlich, dass der nach außen getragene Schein einmal viel Kongruenz mit dem inneren Kern hatte. Menschen fühlten sich angezogen, kamen – und blieben. Diese Zweifaltigkeit hat den Erfolg ermöglicht. Insbesondere in der Phase der Unternehmensgründung ist diese Kongruenz häufig sehr natürlich.
In der Regel verändert sich im Laufe des Unternehmensfortbestands diese Kongruenz, weil vorrangig am Außenbild gearbeitet wird und dies zunehmend vom tatsächlichen Kern entkoppelt ist. Der Erfolg schwindet. Dann wird meist – dem Irrglauben erlegen, dass die „outer beauty“ der Erfolgsfaktor ist – noch intensiver am Erscheinungsbild „rumgedoktort“. In der Regel ohne langfristigen Erfolg.
Zweitens: Vergangenheit ist nicht Zukunft.
Die (Selbst-)Reproduktion basiert auf Erkenntnissen der Vergangenheit („Was hat uns erfolgreich gemacht?“) und nicht auf der Zukunftsannahme („Was wird uns erfolgreich machen?“).
Wann immer die Zukunft gleich der Vergangenheit ist, ist eine automatische Reproduktion des Optimums nicht nur sinnvoll, sondern sogar zwingend. Schwierig nur, dass dem in allen lebendigen Systemen nicht so ist. Zukunft ist anders. Teilweise vorhersehbar, teils unbestimmt. Aber immer anders als das Gewesene. Nur in einer toten Umgebung bleibt alles, wie es ist – solange von außen keine Einwirkung geschieht.
Wo immer Menschen involviert sind, ist ein System lebendig und entzieht sich damit der Verhersehbarkeit und auch der unmittelbaren Steuerbarkeit. Die „best-practice“ von gestern hat somit keinerlei direkte Implikation für morgen.
Drittens: Verantwortung kann nicht entstehen.
„Outer beauty“ vermittelt immer das Gefühl von Ordnung und Beständigkeit. Häufig ist dies auch innerhalb von Unternehmen der kommunikative Duktus. „Wir wollen die Mitarbeiter nicht beunruhigen.“ höre ich oft. Oder Annahmen wie „Die können mit Verantwortung jetzt schon nicht umgehen. Wie soll das erst werden, wenn sie erfahren, wie es wirklich um uns bestellt ist?“
Verantwortung ist ein Gefühl und entsteht nicht durch Appelle. „Übernimm doch mal Verantwortung!“ ist eben so nutzlos wie „Sei spontan!“ Das Gefühl stellt sich ein – oder eben nicht.
Wenn Menschen Verantwortung übernehmen sollen, müssen sie also die Möglichkeit bekommen, ein Gefühl für die echte Situation zu entwickeln. Dafür brauchen sie ehrliche Informationen – also eine möglichst hohe Transparenz.
In einem System, in dem keine Kongruenz zwischen „inner und outer beauty“ herrscht und der schöne Schein gewahrt wird, ist es für deren Mitglieder nahezu unmöglich, zu spüren, ob sie gerade etwas Nützliches tun oder nicht. Sie spüren nicht, was fehlt und können deshalb auch keine echten Lösungsansätze kreieren, auf Ideen kommen und eben Verantwortung übernehmen.
Was heißt das jetzt? Was ist zu tun?
Überprüft die Kongruenz zwischen Außendarstellung und DNA eures Unternehmens. Findet heraus, was euch im Inneren „beautiful“ macht und macht dies sichtbar.
Überprüft eure Annahmen. Erliegt ihr womöglich einem kausalen Bias in eurem Sozialsystem?
Schaut sensibilisiert in die Zukunft. Was ist schon klar, was nicht? Bereitet euch auf verschiedene Szenarien vor.
Benennt neben euren Erfolgen auch klar und deutlich eure Herausforderungen – sowohl gegenüber euren bestehenden wie auch potentiellen neuen Mitgliedern.
Eröffnet den Mitgliedern eures Systems die Möglichkeit zu mehr Information.
…und genießt, was ihr dann erleben werdet. 😉



