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Unlearn!? Niemand ändert ein sinnvolles Verhalten.

In einigen aktuellen Impuls-Videos und Vorträgen habe ich von der Aufforderung des „unlearn“ gehört (wird das ein neues Buzzword?) und mich immer wieder gefragt, was das ist, wofür das gut ist und wie das gehen soll. Im Video habe ich kurz und laut dazu nachgedacht – und hier im Text etwas intensiver, aber eben leise. 

Unlearn, also „verlernen“, bedeutet doch, dass ich etwas nicht mehr tue, was ich früher mal getan habe. Das ist wie „vergessen“, nur auf Fähigkeiten- und Verhaltensebene. Lernen bedeutet, eine Datenautobahn im Kopf zu bauen, welche Ursache und Wirkung miteinander verknüpft. Zum Beispiel habe ich die Fähigkeit (Ursache) „Schreiben“ eines Tages gelernt. Die Wirkung dieser neu erworbenen Fähigkeit war vielfältig Gewinn bringend und Energie sparend: Ich konnte mein Verschriftlichtes als Erinnerungsstütze nutzen, konnte es mit anderen teilen ohne zu sprechen, hatte also eine alternative Kommunikationsmöglichkeit gefunden und und und. Ich nutzte meine Fähigkeit zum Schreiben also regelmäßig und stärkte somit meine Kompetenz darin. Zunächst per Handschrift, später ergänzt um die digitale Schrift. Heute nutze ich beides regelmäßig. Würde ich nur noch digital schreiben, würde ich meine Handschrift ganz organisch verlernen, weil sie nicht mehr gebraucht wird. 

Ich tue also nur das, was mir nützt. Konkret: Was zum Überleben taugt, was Energie spart und was mein Leben verschönert. Und zwar genau in der Priorisierung.

Nun werden Menschen im Zuge der digitalen Transformation regelmäßig dazu angehalten, ihr „altes Verhalten zu verlernen (unlearn)“, um Raum zu schaffen für ein neues Verhalten. Immer wenn ich das höre oder lese, frage ich mich:

Wieso zum Geier sollte ich mein Verhalten ändern, wenn es sich bis jetzt als nützlich erwiesen hat? 

Niemand arbeitet bewusst gegen sich. Ich kann nicht einfach die Luft anhalten und mich dadurch töten – mein Selbsterhaltungstrieb hindert mich daran. Und genauso kann ich nicht aufhören, etwas zu tun, was mir nützt. Ich kann nicht auf Knopfdruck verlernen zu Schreiben – und auch nicht, mich irgendwie zu verhalten. 

Nur verstehen ändert Verhalten.

Auch antrainiertes Verhalten ist im Grunde auch eine Art von „Verstehen“. Denn wenn ich etwas Angelerntes tue und dies zu einer für mich positiven Wirkung führt, dann „verstehe“ ich, dass dieses Verhalten förderlich ist. Und genauso „verstehe“ ich, dass jenes Verhalten, welches zu einer für mich negativen Wirkung führt, eben nicht nützlich ist. Je mehr solcher Erfahrungen ich mache, desto klarer wird mein Bild des „Wie verhalte ich mich am sinnvollsten?“ Aus der erlebten Vergangenheit gibt mein Gehirn mir lineare Prognosen für die Zukunft. Energie sparen halt.

Was so war, wird so sein. 

Wenn ein Mensch also Zeit seines Arbeitslebens aus Erfahrung gelernt, also „verstanden“ hat, dass „Gehorsamkeit“ und „Linientreue“ ihm im Beruf nützlich sind, wieso sollte er jetzt auf einmal damit aufhören? 

Globalisierung und Digitalisierung fordern Mensch und Unternehmen auf vielen Ebenen. Anpassungsfähigkeit ist DAS it-piece im Verhaltens- und Kompetenz-Universum – sowohl als Individuum als auch als Unternehmen. Marktanforderungen ändern sich so schnell, dass eben das, was gestern war, morgen nicht mehr sicher genau so ist. 

Ich höre momentan überall: Lieber Mitarbeiter, Du musst dein Verhalten ändern. Deine Linientreue war bis dato super, aber jetzt, wo wir schneller reagieren müssen auf unseren Markt, musst Du lernen, selbst zu denken und eigene Entscheidungen zu treffen. Dein Chef sagt Dir jetzt nicht mehr, was zu tun ist, Du sagst es Dir selbst. Trau Dich, nur Mut. Wir stehen hinter Dir.“

Schon irre, oder? Vor nicht allzu langer Zeit hat sich das intuitive Verhalten des Selbst-Denkens und -Entscheidens nicht gelohnt, im Gegenteil. Meist endete es in: „Überlass das mal Deinem Chef, der weiß viel besser, was zu tun ist.“ Belohnt wurde man für´s korrekte und schnelle Ausführen. Eigenständiges Denken und vor allem Entscheiden wurden durch systematisch negative Wirkung verlernt. Das, wofür man direkt Verantwortung übernahm, wurde stark dezimiert auf den kleinen Teil der Ausführung, der bei einem selbst lag. 

Und jetzt sollen Menschen also genau dieses Verhalten reaktivieren, das ihnen mühevoll abtrainiert wurde? Unter dem Schutz von Buzzwords wie „unlearn“ sollen sie ihre tausendfach bestärkten Verhaltensweisen ablegen und auf Basis von Lippenbekundungen, ohne jeglichen proof-of-concept, etwas kontra-intuitives tun? Etwas, wofür sie vor kurzer Zeit noch bestraft wurden. Das ist im Grunde die Aufforderung, gegen sich selbst anzutreten und etwas zu tun, was einen beruflich tötet. Oder zumindest bis gestern beruflich getötet hätte. 

Etwas abstrakt, ist mir klar. Ich persönlich hab das eh nie hinbekommen, das Ausführen ohne selber Denken. Wieso das so war, darüber denke ich vielleicht mal an anderer Stelle nach 😉 Zumindest jedoch geht es sehr vielen Menschen derzeit so, dass sie das Gefühl haben, sich innerlich zu zerreißen beim Kampf von Gewohnheit gegen gefordertes Verhalten. Wenn das mal nicht wieder in einem hübschen Schauspiel endet, bei dem das geforderte Verhalten gespielt wird – Business-Theater at it’s best. 

Wenn Sie, liebe Unternehmen und Unternehmer, also wirklich wollen, dass Ihre Mitarbeiter ihr Verhalten ändern, dann ändern Sie Ihre Strukturen. Schaffen Sie einen strukturellen Raum, der das erwünschte neue Verhalten mit einer positiven Wirkung verknüpft.

Sonst könnten sich Ihre Mitarbeiter sorgen, auf die falsche Fährte geführt zu werden. 

Denn niemand opfert sich für eine Idee, die lediglich auf einem Podium vorgetragen wird. Aber Menschen folgen gern. Also, schaffen Sie Tatsachen durch strukturelle Änderungen. Zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen. Das – und nur das – hat das Potential, Sogwirkung und Verhaltensänderungen zu erzeugen.  

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