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Übernehmen jetzt die Mitarbeiter?!

Als Unternehmer kannst Du heute nicht mehr das Haus verlassen, ohne direkt belehrt zu werden: Nimm Deine Mitarbeiter mit auf Deine Reise! Beziehe sie ein und nutze ihre Ideen! Sie sind Dein wertvollstes Gut (ist ein Gut nicht ein Objekt, eine Sache?). Gib Verantwortung ab! Reiße Deine Hierarchien und Silos ein! Behandle Deine Leute gut, dann werden sie auch gute Arbeit leisten! „Serveant Leadership“ musst Du als Top-Manager unbedingt drauf haben!

Der Chef als Diener und Coach für seine Belegschaft.

Was heute zählt, ist der glückliche Mitarbeiter. Zufriedenheit am Arbeitsplatz vor Unternehmenserfolg. Da kann schnell mal so eine Frage im Kopf entstehen: Übernehmen meine Mitarbeiter jetzt die Kontrolle über meine Firma? Soll ich jetzt alles, was ich unter Blut, Schweiß und Tränen aufgebaut habe, ihnen überlassen und hoffen, dass das gut geht?

Als Chef habe ich gelernt, Verantwortung zu übernehmen, einzustehen für meine Firma und deren (Miss-) Erfolg. Habe Hunderte Seminare besucht und mich in Unternehmensführung ausbilden lassen. Natürlich ist es anstrengend, täglich Entscheidungen zu treffen, die so weit reichende Auswirkungen haben, die über Wohl und Weh von Arbeitsplätzen entscheiden – aber ich nehme dieses Los an. Es ist nun mal Teil meiner Rolle.

Wieso jetzt alles auf links drehen?

Es läuft doch. Okay, etwas wackeliger als noch vor zehn Jahren, etwas beschwerlicher auch. Und die Gewinne sind gesunken. Aber insgesamt läuft es. Ich hab das im Griff. Meine Strategie funktioniert noch. Warum soll ich jetzt meinen Mitarbeitern das Steuer übergeben, die überhaupt nicht darin ausgebildet sind, ein Unternehmen zu führen?

Sollst Du ja gar nicht. Nicht das Steuer. Das sollte in Deiner Hand bleiben. Du bist und bleibst der Kapitän. Aber gönn Dir doch eine Mannschaft, die ihren Teil zum Erfolg selbständig beiträgt, die mitdenkt und sich einbringt, die nach vorne will. Anstatt ihre Loyalität darüber zum Ausdruck zu bringen, dass sie weisungsgebunden Regeln folgen und Kennzahlen erfüllen, die teils überhaupt nicht mehr funktional sind für den wirtschaftlichen Erfolg.

Die Idee ist gar nicht so neu.

Auch Henry Ford hatte schon verstanden, dass Menschen schlau sind und voller Ideen stecken. Und genau deshalb – und nicht, wie viele annehmen, weil er sie für dumm hielt – hat er ihnen Regeln und Vorgaben auferlegt, hat er formale Macht eingeführt. Damit die Mitarbeiter eben nicht jeden Tag den Montageprozess „Reifen an Karosserie“ neu erfinden. Er hat unglaublichen Wohlstand ermöglicht, indem er Effizienz in die Arbeitswelt brachte. Das nur erforderte jedoch, dass Mitdenken strukturell unterbunden wurde. Bedauerlicherweise entwickelte sich aus dieser damals neuen Arbeit sukzessive ein neues Bild – das vom dummen, trägen Mitarbeiter, der nicht in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen.

Effizienz ist eben nicht gleich Effektivität. Für ersteres braucht es Regelkonformität und Prozesstreue – also auch formale Macht. Für zweiteres braucht es Ideen – also Freiräume. Effizienz betrifft alle Tätigkeiten, die perspektivisch lieber von Maschinen denn von Menschen ausgeführt werden sollten, während Effektivität immer auf einzelne Könner und Talente angewiesen sein wird. Autos bauen ist eben nicht Autos erfinden.

Selbstorganisation muss demnach unbedingt an die Wertschöpfung gekoppelt sein und wirtschaftlichen Sinn ergeben, sonst ist sie eine Farce, eine kosmetische Employer-Branding-Selbstlüge.

Selbstorganisation ist nicht der Feind.

Selbstorganisation ist nicht böse, ist kein Feind der Unternehmensführung. Und sie ist erst recht nicht die Rache des „kleinen Mannes“, der jahrzehntelang in der Industriegesellschaft auf moderne Weise unterdrückt und ausgebeutet wurde.

Sie ist auch keine Anarchie oder Machtumkehr, denn sie erfolgt in einem festen Rahmen – den die Geschäftsführung festlegt. „Oben“ wird überhaupt erst bestimmt, dass Selbstorganisation praktiziert werden soll – und wo, in welchem Umfang, zu welchem Zwecke. Was dann in der Realität passiert, steht wiederum auf einem anderen Blatt Papier. 

Selbstorganisation ist auch keine Wunderpille.

Jünger der Selbstorganisation und „agile Evangelisten“ glauben, dass sie die Lösung aller unternehmerischen Probleme ist. Das sagen sie zwar nicht so, meinen es aber meistens doch.

Zunächst mal ist Selbstorganisation schlicht eine andere Art, Wertschöpfung zu produzieren. Sie verteilt die Verantwortung gezielt auf den Schultern möglichst vieler im Unternehmen Beteiligten und kann das Top-Management entlasten – nicht entlassen.

Selbstorganisation bedeutet, dass Menschen sich in ihrer Arbeit selbst organisieren. Logisch. Dennoch, der Teufel steckt hier im Detail. Es heißt nicht „sich selbst“, sondern „sich selbst in ihrer Arbeit“. Der Fokus liegt auf der Erbringung von Mehrwert und wertschöpfungsrelevanter Leistung für das Unternehmen – nicht auf well-being und früher-gehen-können.

Im besten Fall führt diese Art der Arbeitsorganisation dazu, dass mehr Mitarbeiter Prozesse als Teil ihrer Arbeit selbständig verbessern, Probleme lösen, neue Produkte entwickeln, das Unternehmen erfolgreicher machen.

Im schlechtesten Fall – der immer dann eintritt, wenn Selbstorganisation strukturell nicht adäquat verankert wurde oder wenn die Mitarbeiter sich selbst überlassen werden – führt sie zu gesteigerter Unproduktivität.

Gibt es eine Checkliste für die Implementierung von Selbstorganisation?

Ich habe gelernt, dass die meisten Menschen gern Checkboxen abhaken und sich besonders sicher fühlen, wenn sie konkrete Tipps oder sogar Anweisungen erhalten, wenn sie ein neues Terrain betreten. Diesem Wunsch möchte ich einerseits gern nachkommen und Dir etwas an die Hand geben, fürchte jedoch, dass das in diesem Kontext etwas tricky ist.

Selbstorganisation bedeutet, selber zu denken und eigenverantwortlich zu handeln.

Wie selbst gedacht und eigenverantwortlich gehandelt ist es denn, fremder Leute Checkboxen zu lesen und abzuarbeiten? Redundante Frage, ich weiß.

Dennoch, damit Selbstorganisation keine Selbstüberlassung wird, ziehe ich mich hier nicht voll aus der Verantwortung. Hier ein paar essentielle Basics, die sich bis dato als erfolgskritisch erwiesen haben:

  • Eigenverantwortliches Handeln ist nur dann möglich, wenn der Mitarbeiter die Verantwortung auch wirklich inne hat. Daher muss das strukturell verankert sein. Gib Verantwortung also nur dort ab, wo Du die möglichen Konsequenzen mittragen kannst.
  • „Ein bisschen Verantwortung“ übergeben geht nicht, ein Mitarbeiter oder ein Team muss innerhalb seines Bereiches oder seiner Aufgabe voll handlungsmächtig sein, sonst ist der Akt der Verantwortungsübergabe nicht mehr als eine gute Intention ohne Wirkung.
  • Überprüfe für Dich, welche Hoffnungen Du mit der Einführung von Selbstorganisation verknüpfst – und welche Sorgen. Setze Dich damit intensiv auseinander, besprich das und geh offen damit um. Lass Deine Hoffnungen nicht der Gradmesser sein, der wirtschaftliche Erfolg zählt.
  • Vertrauen ist das Fundament für Selbstorganisation. Und das entsteht nicht durch Appelle und Werteplakate, sondern maximal durch Lernen. Die gesamte Organisation muss dieses neue Verhalten erst einmal lernen – durch Tun und belohnt werden durch Erfolge. Und auch durch Tun und Lernen aus Misserfolgen. Erst, wenn ein Mitarbeiter gelernt hat, dass ein Irrtum ihn nicht seinen Kopf kostet, kann er wirklich in das neue System vertrauen. Und erst, wenn ein Chef gelernt hat, dass seine Mitarbeiter die Firma nicht in Schutt und Asche legen, sondern vielmehr an die Spitze bringen wollen, kann er wirklich Verantwortung abgeben. Zu Grunde liegt ein positives Menschenbild und die Annahme, dass jeder Mensch wirksam sein möchte.
  • Das Management entscheidet über die Einführung von Selbstorganisation. Das ist eine strategische und bewusst zu treffende Entscheidung derer, die die Haftung tragen.
  • Lernen bedarf Begleitung. Neben aller strukturellen Verankerung bedarf es offene und freie Dialogformate und Lernplattformen, die das neue Denken und Verhalten fördern. Jeder im Unternehmen soll ja auch lernen, welche Art der Unterstützung er für seine Arbeit benötigt und sich diese selbst einfordern. CoCreation statt festem Schulungsplan.

Es gibt so vieles zu beachten, so vieles „richtig“ und „falsch“ zu machen. Vor allem aber gibt es viel Potential. Denn wenn Mitarbeiter nicht mehr im Sinne von Pflichterfüllung (Regeln, KPI etc. – ungeachtet derer Sinnhaftigkeit) denken und agieren, sondern im Sinne des Unternehmenserfolgs, dann gewinnen alle.

Und dann gibt es eine reale Chance auf Selbstorganisation mit Happy End.

2 Kommentare

  1. Liebe Anne,
    ich bin Unternehmer und gleichzeitig Berater – gehöre als auch irgendwie in diesen Belehrerkreis. 😉 Egal in welchem Dialog, am Ende lande ich mit meinen Gesprächspartnern immer an zwei zentralen Fragestellungen:

    1. Was ist als Unternehmer*in meine Vision des Unternehmens und der darin arbeitenden Menschen? Welchen Anteil einer persönlichen Vision dürfen oder sollen die mich umgebenden Menschen dabei gestalten? Und kann das Unternehmen mit dem Ergebnis am Markt erfolgreich sein?
    2. Was hindert mich und das Unternehmen daran, diese Vision zu erreichen? Die Einführung von Selbstorganisation führt ohne klare Vision, analog zu LEAN, Digitalisierung, Zentralisierung, Dezentralisierung…immer zu Widerständen und die Energie fließt nicht mehr in Richtung Kunde, sondern wird intern verbrannt. Selbstorganisation kann also nie ein Ziel sein, es kann aber auf dem Weg liegen.

    Die Fokussierung auf den Weg anstatt auf ein Ziel erfordert allerdings Mut und ein Ausbrechen aus alten Denkmustern, dann gibt es auch eine Chance auf Selbstorganisation mit Happy End.

    Liebe Grüße
    Matthias

    1. Lieber Matthias,

      „Belehrerkreis“, ein interessantes Wort. Ich würde mich selbst so nicht bezeichnen. Davon ausgehend, dass ich von erwachsenen und schlauen Menschen umgeben bin, bin ich überzeugt, dass jeder selbst entscheidet, was gut für ihn ist. Ich bevorzuge eher „Impulsgeber“ und „Hinterfrager“ zu sein und meine das auch so.

      Zustimmung zu Ihrer Erweiterung um die Vision, das sehe ich ähnlich. Freut mich, dass Sie meine Ansicht teilen, dass Selbstorganisation nie das Ziel sein kann. Ich beobachte derzeit, dass das irgendwie alle sagen und trotzdem viele tun. Selbstorganisation zum Selbstzweck, gut getarnt durch ein irrelevantes wirtschaftliches Ziel. Ohne Fokus auf den Markt und echte Wirtschaftlichkeit kann das schwerlich ein anderes, besseres unternehmerisches Ergebnis bewirken.

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