Mir kam da letztens so ein Gedanke, der mich nicht loslässt: „Die Führung war bis dato im Lead, Verantwortung zu übernehmen – jetzt ist sie im Lead, Verantwortung abzugeben.“
Ist das nicht paradox? Ich beobachte derzeit, dass immer mehr Mitarbeiter mehr Mitbestimmung, mehr Verantwortung fordern – und, dass der Druck auf das Management steigt, diese umzusetzen.
Die Mitarbeiter fordern, die Chefetage soll umsetzen. War das nicht mal andersrum?
Das Argument der Mitarbeiter: Ich kann ja nichts machen, mir fehlt die Entscheidungsbefugnis. Wenn sich hier wirklich etwas ändern soll, dann müssen das „die da oben“ entscheiden. Das mutet irgendwie wie die verdeckte Forderung an: „Gib ab, damit ich nehmen kann!“
Erst, wenn Führung abgegeben wird, kann sie neu genommen werden.
Ist das so? Oder steckt hinter diesem passiven und doch fordernden Verhalten vielleicht schlicht ein gelerntes Rollenbild? Jahrzehntelang haben wir alle gelernt, uns im Spiel der Wirtschaft entsprechend den Regeln zu verhalten: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. Das Management hat die Rolle der Entscheidungsträger und der Strategie inne. Formale Macht und Verantwortung liegen bei ihnen. Der Mitarbeiterschaft fällt die Rolle der Umsetzer und das Operative zu. Sie erhalten Vorgaben, befolgen Regeln und Prozesse. Natürlich gestalten auch sie mit – nur eben auf anderer Ebene. Der Grad der Entscheidungsmächtigkeit ist signifikant verschieden – und damit auch der Grad der Verantwortung.
In diesem hierarchischen Rollenbild herrscht analog eine Kompetenzvermutung. Das Management muss die Strategie beherrschen, die Mitarbeiter ihr operatives Geschäft. Das Management muss die „richtigen“ übergeordneten Entscheidungen treffen, die Mitarbeiter müssen entscheiden, wie sie diese auf die „richtige“ Weise zum Leben erwecken. So läuft das Spiel. Entscheiden müssen am Ende alle.
Entscheidung ist nicht gleich Entscheidung.
Es gibt jedoch einen feinen Unterschied, der die Bedeutsamkeit einer Entscheidung ausmacht, und das ist nicht deren Häufigkeit, sondern deren Tragweite. In der Wirtschaft werden Personen dann als „Entscheidungsträger“ betitelt, wenn ihre Entscheidungen eine hohe Wirkkraft haben.
Wenn ich entscheide, wie eine Visitenkarte gestaltet sein soll, halten sich die möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen bei einer Fehlentscheidung im Rahmen. Wenn ich hingegen entscheide, wie viel Budget wir als Unternehmen in Marketing investieren, sieht das schon anders aus.
Diese Unterscheidung bringt folgerichtig eine verschiedene Vorgehensweise mit sich. Sollte man meinen. Ist aber nicht so. Denn nur, wenn diese beiden Entscheidungen auf dem Tisch einer Person liegen, wird sich diese Verschiedenheit im Vorgehen zeigen.
Wieso verwenden Mitarbeiter so viel Zeit auf Nichtigkeiten? Ein Perspektivwechsel
Die Grundannahme: Jeder Mitarbeiter nimmt seine Verantwortung per se ernst. So nimmt der Mitarbeiter, der für die Gestaltung von Visitenkarten verantwortlich zeichnet, diese Aufgabe ebenso ernst wie dessen Führungskraft ihre Aufgabe der Budget-Festlegung ernst nimmt. Verschiedene Aufgaben, verschiedene Tragweiten, aber derselbe Energieaufwand.
Das führt zu Situationen, in denen sich jene Führungskraft fragt, wieso eine simple Aufgabe wie die Gestaltung der Visitenkarten „derart aufgebläht“ wird. Vermutlich wird sie den Prozess für ineffizient halten. Aus ihrer Sicht auch logisch, nicht jedoch aus Sicht des Mitarbeiters, der die Verantwortung für die Visitenkarten trägt.
Wäre die Verantwortung für beide Aufgaben jedoch in einer Person vereint, so würde die Budgetierungsfrage viel intensiver behandelt werden als die Visitenkarten-Gestaltung. Das ergibt sich aus der unterschiedlichen wirtschaftlich relevanten Tragweite.
In der Praxis beobachten wir, dass diese erstrebenswerte Situation meist nicht eintritt, weil sich Mitarbeiter häufig nicht bereit fühlen, diese neue Dimension der Verantwortung anzunehmen – und Führungskräfte sich nicht bereit fühlen, diese Verantwortung abzugeben.
Abgeben und annehmen – eine Wechselwirkung
Das Management soll loslassen, soll also Verantwortung abgeben – aber wohin fällt sie dann? Vor meinem geistigen Auge tut sich da ein Abgrund auf, in den der Chef schaut. Und daneben stehen Menschen und rufen ihm zu: Lass los! Du sollst loslassen!
Der Chef lässt also los, die Verantwortung fällt ins Nichts – oder jemand fängt sie auf. Das ist aber nicht bekannt in dem Moment, in dem er loslässt. Es kann so oder so ausgehen.
Ich finde das beängstigend. Und je höher der Wirkgrad der Entscheidung, um die es geht, desto höher die Unsicherheit. Verständlich. Deshalb denke ich, dass es das Engagement aller Beteiligten braucht, um eine Neuverteilung von Verantwortung zu erreichen. Mehr noch: Wir müssen uns aus dem gelernten Rollendenken befreien, um ein neues überhaupt erst zu ermöglichen. Mit altem Verhalten neues ermöglichen – eine paradoxe Illusion.
Verantwortung neu lernen erfordert echte Impulse, Zeit, Raum und verschiedene Wege.
Idealerweise schaffen wir also Räume, in denen Menschen dann Verantwortung nehmen können, wenn sie einen echten Impuls dazu verspüren. Dann kann zum Beispiel der Mitarbeiter aus obigem Beispiel seinem Chef anbieten, die Budget-Ermittlung zu übernehmen – und der Chef lernt in genau diesem Moment, ob er bereit ist, diesen Teil seiner Verantwortung abzugeben. Denn erst jetzt wird es real. Und erst jetzt werden auch die tatsächlich möglichen Wege sichtbar, wie das geschehen kann – von einer Trockenübung bis hin zur völligen Übergabe der Thematik – und der dazu gehörigen offiziellen Verantwortung.
Es geht also nicht darum, einfach alles loszulassen und Mitarbeitern per se mehr Verantwortung zu übergeben – sondern darum, Räume zu schaffen, in denen eine Neuverteilung zwischen den beteiligten Parteien „ausgehandelt“ werden kann. Und während das tatsächlich geschieht, lernen alle miteinander und voneinander, was gerade schon geht und was noch nicht. Und was es noch braucht.
So entsteht mit der Zeit ein neuer Umgang mit Verantwortung – und im Idealfall eine Organisation, in der Verantwortung dort übernommen wird, wo sie tatsächlich gefühlt wird, also ist.



