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Künstlicher Sound für Elektro-Autos: Hilfe für den Bürger oder Verstärkung der Unmündigkeit?

Ich bin leidenschaftliche Autofahrerin. Und ich liebe satte Motorensounds. Fehlzündungen beim Start zaubern mir ein fettes Grinsen ins Gesicht, auch wenn sie heutzutage nicht mehr auf die Leistung der Maschine zurück zu führen sind, sondern auf gutes Sound-Engineering. Aber sei´s drum, ich steh drauf.

Worauf ich allerdings weniger stehe, ist der permanente Lärm des Autoverkehrs. Das ständige dumpfe Grollen auf den Straßen meines geliebten Berlins. Nicht zuletzt war die Sehnsucht nach Ruhe einer der elementaren Gründe, die uns nach mehr als 30 Jahren dann doch an den Stadtrand verschlagen hat.

Vor ein paar Monaten bin ich dann fast von einem E-Taxi überfahren worden. Ich bin mittlerweile so daran gewöhnt, mich an den Geräuschen heran fahrender Autos zu orientieren, dass ich daraus ableitete, wie nah mir diese gerade sind. Der in der Kindheit gelernte Links-Rechts-Links Blick vor dem Überqueren einer Straße ist nur noch Backup für mich. Bis mir eben diese Begebenheit untergekommen ist. Nur mein ge-Backup-ter Blick nach links verhinderte, dass ich vor das Taxi latschte… knappe Sache, nochmal gut gegangen.

Daheim berichtete ich meinem Liebsten davon und regte mich darüber auf, dass es doch nicht sein könne, dass diese E-Karren lautlos durch die Straßen führen, das wäre doch voll gefährlich, meinte ich. Wir alle sind darauf konditioniert, die Auto-Geräusche als Gefahrenwarnung zu nutzen — und jetzt das! Mein lieber Mann meinte daraufhin nur weise, dass ich mich doch einfach umstellen, wieder den Links-Rechts-Links Blick in mein Repertoire aufnehmen und mich an der Ruhe erfreuen könnte.

Einige Wochen später passierte mir dasselbe noch einmal. Wieder rettete mich mein automatischer Links-Blick. Ich begann, zu lernen. Und stellte fest, dass es echt schnell ging, mein bereits vorhandenes Wissen wieder zu aktivieren. In den nächsten Woche begann ich, vorbei fahrende E-Autos mit anderen Augen zu betrachten und stellte fest, dass die Ruhe tatsächlich ein riesen Fortschritt war. Ich selbst fahre zwar aktuell (noch) einen Benziner, der Krach macht, aber ich gewinne den Eindruck, dass die E-Bewegung vielleicht doch nicht so schlecht ist.

Dort draußen, wo wir jetzt wohnen, ist es insgesamt so viel ruhiger und entspannter, das macht auch mich viel ruhiger und entspannter. Kuck mal an, was das Umfeld so ausmacht. 😉

Nun könnte man meinen, die Geschichte endet hier — habe Erfahrungen gemacht, etwas gelernt, bin jetzt schlauer.

Aber nein, ganz im Gegenteil. Die Geschichte nimmt einen Verlauf, den ich mir nicht habe träumen lassen. Das, was ich damals im Nöl-Modus proklamiert habe, wird Realität. Irre. Alle E-Autos werden demnächst mit Sounds ausgestattet. Um eben zu vermeiden, dass Fußgänger und Radfahrer überrollt werden. Bei Sehgeschädigten verstehe ich die Argumentation natürlich, bin jedoch sehr sicher, dass es für diese Zielgruppe eine andere Lösung gibt, die nicht gleich röhrende Motorensounds erforderlich macht und somit jeglicher Ruhegewinn obsolet wird. Dazu könnte der entsprechende Ausschuss mal eine Ausschreibung machen, sicherlich kämen da einige brillante Alternativideen von kreativen Talenten aus der Republik auf den Tisch. Ich hätte zum Beispiel direkt eine Idee — nicht wissend, ob diese eher in die Kategorie “brillant” oder “weniger sinnvoll” fallen würde: Die Geh-Hilfen mit einer Art Sensor ausstatten, der dann Geräusche macht wenn sich z.B. ein Auto nähert… wie gesagt, nur ne Idee.

Für mich mutet die Entscheidung jedenfalls nach Schildbürgertum an, nach weiterer Entmündigung von uns Bürgern. Als ob wir uns nicht umstellen könnten, lernen könnten. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die eindeutig feststellen, dass Stress — auch resultierend aus dem Umgebungslärm — unseren Energiehaushalt schädigt und unsere Lebensqualität verringert.

Sind wir sicher, dass die kurzfristig angelegte “Hilfe” tatsächlich eine ist? Woher kommt die Sicherheit, dass sie nicht langfristig mehr schadet, weil sie mal wieder dem Bürger die Verantwortung abnimmt? Für mich ist das schon eher ein Wegnehmen, eine ungefragte Hilfe. Ob das Motiv dazu Fürsorge ist oder Sorge, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle für mich. Das Ergebnis ist ungefragte Entmündigung, nicht Stärkung des Einzelnen. Mein Wunsch, dass Menschen mehr Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und eigenständiger Entscheidungen treffen, wird dadurch wohl eher nicht begünstigt.

Ich beobachte diese Entwicklung zunehmend sorgenvoll. Wie rüsten wir uns für eine zunehmend komplexere Welt, in der wir die Probleme und Herausforderungen von morgen überhaupt noch nicht kennen? Indem wir alle sichtbaren Risiken versuchen, im Keim zu ersticken? Indem wir versuchen, uns in Watte zu packen? Das ist für mich ein ähnlich dysfunktionales Verhalten wie das von Eltern, die ihre Kinder vor allen Gefahren beschützen wollen — und sei es nur vor dem Sand aus dem Spielkasten. Das ist auch nichts anderes als ein in-Watte-packen.

Zukunftsgerüstet durch einen Michelin-Mantel aus Watte? Ich glaube nicht. Eher plädiere ich dafür, dass wir alle mal wieder mehr gefordert werden in unserem Denken und im Abwägen von Entscheidungen. Dass wir wieder näher an uns heran rücken und sehen können, was in uns steckt — anstatt mehr und mehr Regeln zu folgen und uns in die Obhut anderer zu begeben. Ich habe dabei gar nichts gegen Obhut oder die Sicherheit einer Herde, vielmehr habe ich Sorge davor, dass die wenigen Herdenführer gar nicht die Kompetenz haben können, die es in der Zukunft brauchen wird, um erfolgreich zu (über)leben. Dafür benötigen wir die individuellen Talente so vieler Menschen wie möglich, nicht die Anordnungen einiger weniger.

Und dies bedingt eben, dass wir uns jetzt aktivieren. Dass wir für aufkommende Probleme und Aufgaben Ideen und Lösungsansätze entwickeln, anstatt darauf zu warten, dass “jemand” das tut.

Mein ganzes Leben gestalte ich schon so — und kann daher aus eigener Erfahrung nur dazu raten. Es stärkt unwahrscheinlich, zu wissen, dass jeder von uns ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit erreichen kann. Das macht im übrigen auch das Mitlaufen in einer Herde viel angenehmer. Weil ich es nur so lange tue, wie es mir gut tut. Und wenn ich bemerke, dass ich für den Schutz zu viel aufgeben muss, kann ich einen anderen Weg einschlagen und mir eine neue Herde suchen oder selbst schaffen.

Das ist für mich Freiheit durch bewusst gelebte Verantwortung.

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